Zwei Frauen, drei Pferde und 1’000 Meilen

Anja hat 2019 für den Jahresbericht des CRZVD einen Beitrag über ihren Ritt mit Merceditas und Evita nach Italien geschrieben, den wir hier mit euch gerne teilen möchten.

„Vor drei Jahren sassen Alexander Lüchinger, zwei Freunde und ich nach einem Wanderritt im tiefsten Winter am Abend in einem Gasthof und redeten darüber, wohin man mal reiten könnte. Was ich an diesem Abend so spontan als Idee äusserte, setzte ich letzten Sommer um: mit La Contienda Campo de Espartillo (von uns Evita genannt) und Merceditas Caraguatá, zwei Criollostuten von Laguna des las Rosas, ritt ich aus der Schweiz in die Toscana und wieder zurück.

Zwischen jenem Abend und einem Morgen im Mai, an dem wir tatsächlich sattelten und losritten, lagen zwei Jahre, in denen ich die Strecke erst online plant und dann auf Kartenmaterial, das ich beim italienischen Militär bestellen musste. Ich las Testberichte über Ultra-Light-Trekking-Ausrüstung und Reiten über lange Distanzen, kaufte Packtaschen, einen Packsattel und einen Wanderreitsattel, vervollständigte meine Campingausrüstung, prüfte alles immer wieder auf Vollständigkeit und trainierte die Kondition von Merceditas und Evita. Die Stuten und ich waren mittlerweile zum Team Toscana zusammengewachsen und für unsere langen Trabritte bei Wind und Wetter bekannt geworden.

Ziel war ein Ritt von Küsnacht am Zürichsee nach Volterra in die Toskana und zurück. In Volterra lebt meine Tante mit ihrer Familie und ihren Pferden, seit meine Grosseltern vor über 40 Jahren aus den Bündner Bergen in den Süden ausgewandert sind.

Ich wollte den Ritt nicht alleine machen, allerdings gibt es nicht allzu viele Personen, die für so etwas zu haben sind und bei denen ich mir vorstellen kann über Wochen und unter allen Anstrengungen, 24 Stunden am Tag mit ihnen zu verbringen. Julia ist eine der ganz wenigen Personen, die ich mir als Begleiterin vorstellen konnte. Vier Tage, nachdem ich ihr eine SMS geschickt hatte, ob sie bei so etwas dabei wäre, sagte sie ohne weitere Nachfragen zu und so wuchs das Team Toscana um Julia und Geronimo an.

An einem Dienstag im Mai 2018 trafen wir uns um sechs Uhr früh im Stall, sattelten und ritten los. Die Route stand grob fest, wir hatten einige Kontaktadressen und alles im Gepäck, um unabhängig zu sein: vom Schlafsack, Zelt und Kocher bis hin zum mobilen Weidezaun. Wir durchquerten als erstes die Schweiz bis zur italienischen Grenze. Am Zoll in Chiasso brauchte es einige Überzeugungskraft, bis die Zöllner glaubten, dass man Pferde nicht in einem Anhänger über die Grenze bringen muss, sondern dass man sie auch im Sattel passieren kann.

Direkt nach der Grenze wurden wir herzlich von den italienischen Criollozüchtern empfangen, die uns in Folge immer wieder Nummern von Bekannten schickten, bei denen wir übernachten konnten oder die uns weiterhalfen, so auch die dringend benötigte Nummer von einem Hufschmied, als nicht mehr allzu viel vom Beschlag übrig war und der Aufstieg in den Apennin bevorstand.

Für die Übernachtungen suchten wir Tag für Tag etwas Passendes für die Pferde. Allerdings mussten sie einige Kompromisse eingehen, ihre Weiden und Ställe mit Kühen, Eseln, Ziegen, Schafen, Haus- und Wildschweinen teilen und beim Futter vom duftenden Bergheu bis zu Weizenmehl als Kuhfutter alles mal probieren. Wir selber schliefen, wo es gerade passte – in Boxen, auf Heuballen, neben Traktoren und zwischen Kutschen.

Eine vollständige Liste von Erlebnissen ist hier nicht annähernd möglich. In der Toskana schwammen wir trotz Verbots frühmorgens mit den Pferden im Meer. Wir ritten bis auf 2700 Meter hinauf und an vier verschiedenen Gletschern vorbei. Die Wege führten entlang von viel befahrenen Autobahnen und durch Gegenden, wo wir den ganzen Tag keinen Menschen trafen. Eine Herausforderung waren die grossen Flüsse. Über den Ticino fanden wir eine Pontonbrücke, beim Po hielten wir den gesamten Verkehr auf einer sehr schmalen, ein Kilometer langen Autobrücke auf. Wir trafen auf die unterschiedlichsten Leute: Springreiter in der Nähe Mailands, Südtiroler Alphirten in den Schweizer Bergen und verkaterte amerikanische Soldat, die auf dem gleichen Hof übernachteten, um am nächsten Tag Bullen zu reiten. Die ersten drei Wochen waren wir nur im Regen unterwegs; beim Abstieg nach Varzi im Hinterland von Genua verwandelten sich die Wege in Bäche und wir standen über Stunden wadentief im Wasser. Danach machten uns nicht nur die Mücken und die Hitze zu schaffen, wir wurden von Flöhen gebissen und sogar von einer Ratte im Schlaf angesprungen, die Pferde hatten allergische Probleme wegen schimmeligen Heus und auch einmal einen Satteldruck. Und dennoch hat sich jeder Tag gelohnt.

Die Reise hat nicht nur unsere Wahrnehmung von Distanzen und vom Reisen verändert, sondern zu einer besonderen Beziehung zu unseren Pferden geführt. Wir ordneten unsere Bedürfnisse jenen der Pferde unter, sie begleiteten uns dafür täglich in die Bar, wo sie warteten, bis wir unsere Cappuccinos getrunken hatten, und sie trugen uns auf den schwierigsten, schmalsten und steilsten Wegen sicher durch die Berge. Als rational denkender Mensch in solch einer Situation die Verantwortung einem Fluchttier zu überlassen, hat mir zu Beginn einiges abverlangt. Und so haben wir nicht nur viel über die Pferde gelernt, sondern auch über uns selbst.

Da wir über 1000 Meilen geritten sind, sind wir nun Mitglieder der Long Riders’ Guilde und erst jetzt verstehen wir, was Leute verbindet, die so eine Erfahrung gemacht haben. Es geht dabei um weit mehr als diese Distanz zu schaffen, vielmehr darum, sich ständig auf neue Situationen einzustellen; Pläne zu verwerfen und sofort neue zu schmieden; fremde Hilfe anzunehmen, Leuten zu vertrauen, Pausen einzulegen, wenn es jemand in der Gruppe braucht; aber sich auch gegenseitig anzuspornen, wenn es noch einige lange Kilometer bis zum Etappenziel sind.

Wir würden sofort wieder satteln und losziehen, ich bin jedenfalls in Gedanken schon an der Planung der nächsten Tour. An dieser Stelle möchte ich zudem ein herzliches Dankeschön an Alexander aussprechen, der mir ohne zu zögern, nicht nur eines, sondern gleich zwei seiner Pferde für drei Monate anvertraut hat.“

Und wie die Geschichte weiter gegangen ist, ist bekannt. Nach so vielen Wochen, in denen Anja, Evita und Merceditas 24 Stunden am Tag zusammen waren, durfte sie 2019 die beiden Alexander Lüchinger abkaufen. Sie stehen weiterhin in Alexanders Stall, wo mittlerweile auch Carmera und Geronimo ihr neues Zuhause gefunden haben.

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